Radebeul/Essen/Liesborn (mw/bb). Die historische „Spitzhaustreppe“, die auch Himmelstreppe genannt wird, und ihre denkmalgeschützte Umgebung in der sächsischen Stadt Radebeul ist wohl das, was früher als „Postkartenmotiv“ und heute als Instagram-Hotspot bezeichnen werden würde. Die Treppe verbindet das Weingut Hoflößnitz mit dem Bismarckturm. Ein ideales Ausflugsziel für Urlauber. Doch auch sportlich kann die Treppe ein unvergessliches Erlebnis sein: Beim „Mt. Everest Treppenmarathon“.
Wer hier an den Start geht, kennt den Preis: 100 Runden, 39.700 Stufen rauf und runter. Stattliche 8.848 Höhenmeter (so hoch wie der Mount Everest, daher auch der Name des Laufs) auf einer Gesamtdistanz einer doppelten Marathonstrecke. Das Zeitlimit: maximal 24 Stunden für 84,4 Kilometer. Laut Veranstalter der wohl härteste Treppenmarathon der Welt. Unter den Teilnehmenden am 10. Mai: Thomas de Nocker. Für ihn war der Lauf der Schlussstein auf seinem persönlichen Ausdauer-Kompass der anspruchsvollsten Wettkämpfe Deutschlands.



„Ich habe für dieses Jahr zwei Wettkämpfe geplant: den Treppenlauf in Dresden und die Triathlon-Double-WM in Emsdetten. Der Treppenlauf hat mich einfach seit Jahren gereizt – monoton überschaubar, aber gleichzeitig scheinbar unbezwingbar. Den musste ich machen“, kündigte der Extremsportler vorab an und hatte einen passenden Kalenderspruch für das Bezwingen der Spitzhaustreppe gefunden: „Du brauchst immer nur genug Mut für den nächsten Schritt, nicht für die ganze Treppe.“
Die Vorbereitung: Jede Stufe ein Schritt in Richtung Radebeul
Als sich der in Liesborn-Göttingen aufgewachsene und heute in Essen lebende BWL-Professor im vergangenen Herbst einen der begehrten Startplätze sicherte, begann ein ungewöhnliches Trainingskapitel: Stundenlanges Treppensteigen, teils sechs, sieben Stunden am Stück. Auf Halden, in Parkhäusern, an Bahndämmen rauf und runter. Selbst im Fitnessstudio kämpfte er sich auf Spezialgeräten Stufe um Stufe nach oben (allerdings ohne den schmerzhaften Abstieg). Jede Stufe ein Schritt in Richtung Radebeul.
„Treppenlaufen ist eine ganz eigene Bewegung als normales Laufen. Andere Muskeln, andere Belastung. Da war klar, dass ich mich speziell vorbereiten muss“, zeigte sich Thomas im Vorfeld seiner jüngsten sportlichen Herausforderung ehrfürchtig, aber auch mit dem Antrieb, diese neue Herausforderung zu bewältigen.
150.000 Schritte ohne Pause und pro Sekunde eine Treppenstufe
Als am 10. Mai um Punkt 16 Uhr der Startschuss fällt, beginnt ein physisches und mentales Abenteuer: 397 Stufen runter, Wende, 397 Stufen wieder hoch. Gut zehn Minuten pro Runde – ohne Zeit für echte Pausen. „24 Stunden bestehen nur als 86.400 Sekunden, da bleibt pro Stufe rauf und runter jeweils nur eine Sekunde. Für lange Pause ist da keine Zeit. “, rechnet Thomas vor. Essen, Trinken, mental auftanken – all das findet zwischen den Stufen statt.
„Ich hatte mir fest vorgenommen, mich nie hinzusetzen. Wer sich setzt, steht oft nicht mehr auf. Und das wollte ich auf keinen Fall riskieren.“
Jeder Sportler trägt einen Handschuh an der rechten Hand, um sich am Geländer hochzuziehen. Ohne Schutz wäre die Handfläche nach wenigen Stunden wund gescheuert.
Die ersten 20 Runden laufen sich dann wie von selbst. Danach kommen erste Krämpfe. Erst in den Waden, später gefühlt überall. Löffelweise Salz bringt kurz Erleichterung und gleicht den Mineralhaushalt zumindest kurzzeitig aus.
„Irgendwann tat einfach alles weh – da merkst du die Krämpfe nicht mehr.“
Aussteigen? Keine Option. Nicht für einen, der schon die TorTour de Ruhr, den Triple Ultra in Lensahn und den Zugspitz-Ultratrail gemeistert hat.
Als es dunkel wird, hat Thomas 35 Runden hinter sich. Die Spitzhaustreppe ist beleuchtet, Dynamo Dresden zündet zu den Aufstiegsfeierlichkeiten (oder zum Anfeuern der Treppenläufer?) ein Höhenfeuerwerk in der Ferne – Thomas läuft weiter. Cola, Adrenalin und ein eiserner Wille tragen ihn durch die Nacht: „Oft habe ich zwischendurch auch gar nicht daran gedacht, wo ich bin, dann läuft man fast wie in Trance und wacht dann plötzlich auf und freut sich, dass man wieder 5 Runden mehr auf der Liste hat.“
Wer sich auf einem Feldbett im Ruhebereich niederlässt, kommt kaum wieder hoch. Thomas nicht. Keine Sekunde Schlaf, kein Zelt. Nur der Wille zählt. So war der ehrgeizige Plan.
Die letzten Meter: Die Finisher-Medaille gibt es schon vor dem Ziel
Am frühen Morgen sind es noch 20 Runden. Dann zehn. Dann fünf. Das Ziel rückt näher.
„Ich hatte keinen Grund, aufzuhören. Natürlich schmerzt alles, aber ich hatte keine ernsten Probleme. Also musste es weitergehen.“
Als es auf die letzte Runde geht, bekommt er die Finisher-Medaille überreicht. Noch vor dem finalen Aufstieg. Eine symbolische Geste und mentale Stütze für den Schlussspurt. Thomas geht die Treppenstufen ein letztes Mal. Langsam, bewusst, erschöpft. Dann: Arme hoch, das Ziel ist erreicht. Nach 21 Stunden und 9 Minuten ist er als 19. Teilnehmer im Ziel. Viele gaben vorher schon auf. Zu anspruchsvoll ist der Doppel-Marathon „Wenn 21 Stunden Anstrengung plötzlich von einem abfallen – das ist einfach ein unbeschreibliches Gefühl.“


Der Osten war die letzte Himmelsrichtung
Mit dem Treppenmarathon in Radebeul komplettiert Thomas de Nocker seinen persönlichen „Ausdauer-Kompass“ – ein ehrgeiziges Projekt, bei dem er die vier härtesten Nonstop-Ausdauerwettkämpfe Deutschlands in den vier Himmelsrichtungen absolviert hat:
- Norden: Triple Ultra Lensahn – 11 km Schwimmen, 540 km Rad, 126 km Laufen
- Süden: Zugspitz Ultratrail – 111 km mit 5.100 Höhenmetern
- Westen: TorTour de Ruhr – 230 km Nonstop entlang der Ruhr
- Osten: Treppenmarathon Radebeul – 8.848 Höhenmeter, 39.700 Stufen
Jeder dieser Wettkämpfe ist für sich eine sportliche Grenzerfahrung. Thomas hat sie alle gemeistert.
Ein Doppel-Ironman zum persönlichen Saisonabschluss
Viel Zeit zur Erholung bleibt Thomas de Nocker nicht. Bereits am 14. Juni 2025 steht der nächste sportliche Höhepunkt an: Die Weltmeisterschaft im Double Ultra Triathlon in Emsdetten. Dann geht es erneut ans Limit. 7,6 km Schwimmen, 360 km Radfahren, 84 km Laufen. „Ich habe einen Startplatz bekommen, das will ich natürlich mitnehmen“, freut sich Thomas auf die nächste große Herausforderung. Bis dahin möchte er sich ein paar Tage Pause gönnen, aber dann geht es wieder ab ins Becken und rauf aufs Rad, um sich auf den Triathlon vorzubereiten.
Text: B. Brüggenthies, Fotos: privat