Wadersloh (mw/sjk). Es herrscht Krieg. Ganz in unserer Nähe. Durch die Nachrichten in den (sozialen) Medien, die unzähligen Spenden- und Solidaritätsaktionen und die Ankunft von SChutzsuchenden auch in unserem Dorf erleben auch wir den Krieg tagtäglich mit. Vor 80 Jahren führten auch die Deutschen einen Krieg. Sechs Millionen Juden wurden ermordet. Insgesamt kamen schätzungsweise 70 Millionen Menschen im Zweiten Weltkrieg ums Leben. Die Geschehnisse von früher dürfen nicht vergessen werden, damit sich so etwas nicht wiederholt. Es gibt viele Mahnmale, Veranstaltungen und Organisationen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, an den Holocaust zu erinnern.
Vor einigen Wochen lud der Heimatverein Wadersloh interessierte Bürger zum „Stolpersteinereinigen“ ein. Diese sogenannten Stolpersteine sind kleine Gedenktafeln aus Messing. Jede Tafel nennt den Namen und das Geburtsjahr eines Opfers des Nationalsozialismus aus Wadersloh und was mit ihm geschehen ist. Sie sind in unseren Gehwegen eingelassen worden, vor den Häusern, in denen die genannten Personen zuletzt gewohnt haben.
Des Weiteren gab es vor Kurzem im Rathaus eine Poster-Ausstellung über das jüdische Leben. Die Gemeinde Wadersloh ist erst vor Kurzem – auf Antrag des Heimatvereins- dem sogenannten Riga-Komitee beigetreten und dazu wurde die Wanderausstellung der MiQua Köln nach Wadersloh geholt. Diese Ausstellung zeigte auf 17 Tafeln Themen rund um das jüdische Leben in Deutschland.
Leider gibt es nicht mehr viele Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges. Viele, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, sind mittlerweile gestorben oder können (krankheitsbedingt) oder wollen/können sich nicht mehr an die Zeit zurückerinnern. Dabei kann keine Veranstaltung und kein Mahnmal jemanden so eindrucksvoll ergreifen wie eine Erzählung.
Margarete Weber aus Wadersloh ist eine dieser Zeitzeuginnen – Sarah-Jane Kammermann sprach mit ihr über die Erinnerungen an diese Zeit. Intention der Veröffentlichung dieses Textes war das Konservieren von Erinnerungen einer Zeitzeugin. Der Text umfasst wörtliche Zitate der Interviewpartnerin und behandelt die Erlebnisse während der Kriegszeit in Deutschland. Am Ende des Beitrags gibt es Links zu weitergehender Lektüre. Beachten Sie bitte die Triggerwarnung nach dem Prolog.
Prolog: Ein Erfahrungsbericht aus erster Hand
Unsere 88-jährige Nachbarin, Margarete Weber, erzählte mir vor Kurzem, dass sie einen Bericht von einer ukrainischen Frau gesehen hat, die berichtete, dass sie jetzt das zweite Mal in Deutschland sei: Das erste Mal war sie als Zwangsarbeiterin im 2. Weltkrieg nach Deutschland gebracht worden und jetzt ist nach Deutschland geflohen, weil in ihrer Heimat ein grässlicher Krieg ausgebrochen sei. Wie schlimm muss das für diese Frau sein, zwei Kriege miterlebt zu haben bzw. gerade noch zu müssen durch Medien und Berichte von zurückgebliebenen Familienmitgliedern und Freunden. Aber auch mit Margarete machen die Nachrichten etwas. Sie hat den 2. Weltkrieg miterlebt. Vor einigen Monaten haben zusammen gesessen und sie hat mir ein wenig aus dieser Zeit erzählt. Wenn wir heute miteinander sprechen, ist die Stimmung gedrückter, weil Vieles in ihrem Kopf wieder da ist, was längst vergessen war. Mein Interesse war geweckt, etwas aus einer anderen Perspektive zu erfahren und ich habe großes Glück gehabt, dass Margarete mich an ihren Erinnerungen teilhaben ließ. Vielen Dank dafür. – S.-J. Kammermann im Mai 2022.
„Ich bin am 21. Mai 1933 geboren. Sonntagsnachmittags um 4 Uhr. Ich war ein Geschenk vom Führer. So sagte man das damals, weil der Adolf war so clever, der hat diesen schon ganz bestehenden Muttertag sofort für sich genommen. Es gab einen Muttertag und der war in dem Jahr am 21. Mai, also ich bin am ersten Muttertag unter Adolf Hitler nachmittags um 4 geboren.“
Das weiß Margarete so genau, weil dieser Tag als ein ganz Besonderer galt und ihr das auch immer wieder so gesagt wurde. Wenn sie sich etwa das Knie aufschlug und weinte, strich ihre Mutter darüber und sagte: „Ach Margarete, du weißt doch, du bist ein Glückskind. Erstens bist du aufm Sonntag geboren und dann auch noch unterm Führer.“
Adolf Hitler wurde am 30.01.1933 vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Am 17.05.1933, also 4 Tage vor diesem Muttertag, hielt er für ca. eine Stunde im Deutschen Reichstag seine erste außenpolitische Rede, die als „Friedensrede“ galt. Viele Menschen waren begeistert von ihm, so auch Margaretes Eltern. Als 5-jähriges Mädchen sagte Margarete mal zu einer Nachbarin: „Tante Emma, das heißt nicht Guten Morgen, das heißt Heil Hitler.“ Nach dem Krieg erfuhr sie, dass der Ehemann dieser Nachbarin ein Sozialdemokrat war und sie deshalb nicht mit Heil Hitler grüßte.
Margaretes Schulweg betrug etwa. 2,5 km. Die Strecke zog sich über einen sehr langen, geraden Weg. Als sie eines Tages mit vielen anderen Schülern auf dem Heimweg war, sie sich unterhielten und trotz des Krieges gute Laune hatten, näherten sich drei Kampfflugzeuge. Eines davon flog direkt im Sturzflug auf sie zu. Sie sprangen in Todesangst direkt in den Straßengraben. Nachdem die Flugzeuge verschwunden waren, sind sie völlig verdreckt, voll mit Schlamm und Angst wieder hervorgekrochen. War das ein Angriff? Aber warum wurde nichts abgeworfen? Völlig verängstigt sind sie nach Hause und haben ihren Eltern davon berichtet. Tage später hörte sie aus einem Gespräch heraus, dass es wohl deutsche Kampfflugzeuge gewesen sein müssen. Ein Kampfpilot soll sich wohl einen „Scherz“ erlaubt haben.
So, wie es damals die Hitlerjugend (HJ) gab, gab es auch für die 10- bis 18-jährigen Mädchen eine Organisation, die unterteilt war in den Bund Deutscher Mädel (BDM) für die 14- bis 17-jährigen Mädchen und dem Jungmädelbund (JM) für die 10- bis 13-Jährigen. Die Mitgliedschaft in dieser Organisation war ebenfalls Pflicht und sogar seit 1936 gesetzlich geregelt.
Auch Margarete Weber musste einmal pro Woche zur „Gruppe“ der JM und sie hat es gehasst, weil sie so viele eigene Ideen hatte, was sie nachmittags spielen könnte, statt zur „Gruppe“ zu gehen und darauf hinzuarbeiten, sich das schwarze Halstuch und den braunen Lederknoten zu verdienen und somit ein „Vollmitglied“ des Jungmädelbundes zu werden, in dem sie bleiben musste bis zum Wechsel in den Bund Deutscher Mädel mit 14 Jahren.
Wenn man nicht zur „Gruppe“ gegangen ist, wurde man abgeholt.
Die BDM-Mädchen sollten sich eigentlich um die JM-Mädchen kümmern, aber waren meist viel zu sehr mit den Jungs aus der Hitlerjugend beschäftigt, sodass die Gruppenstunden meist so abliefen, dass Margarete und die anderen JM-Mädchen, wie morgens in der Schule, in ihren Bänken saßen und sich langweilten.
Ihre Heimatstadt hatte damals Japans Botschafter General Hiroshi Oshima (ein Verbündeter Hitlers) zu sich eingeladen unter anderem zu einer Brennerei-Besichtigung.
Margarete erinnert sich: „Da haben wir bei der Fabrik auf dem Bürgersteig gestanden, wir mussten antreten, weil Oshima kommt. Und es war sehr kalt und ich war nur so ein Hänfling. Dann haben wir dagestanden und gewartet und wehe, die Lehrerin musste mit. Wehe, die Lehrerin sah, dass man, wenn man den „Heil Hitler“-Arm nicht mehr so hochkriegte so lange, dass man den abstützte. Dann gab es aber ein Donnerwetter! Und dann weiß ich, der kam und kam und kam nicht, der hat seine Uhrzeit verpennt, die sie uns versprochen hatten und dann weiß ich, dass wir da gestanden haben auf dem Bürgersteig „Oshima, Oshima, komm doch bald, unsere Füße sind schon kalt. Wir mussten Parade stehen bis der kam. Das war normal.“
1939 wurde die sogenannte Verdunklungspflicht per Verordnung erlassen. Es durften keine Lichtquellen von draußen mehr sichtbar sein. Unter anderem wurden Fensterscheiben von Wohnräumen mit dunklem Papier abgeklebt. Es gab zudem Luftschutzwärter, die durch ihr Gebiet liefen und kontrollierten, dass sich die Mitmenschen an die Verordnung daranhielten.
Als im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie ausgebrochen ist und es zum ersten großen Lockdown und Kontaktbeschränkungen kam, dachte Margarete zwischendurch an den damaligen Luftschutzwart aus ihrer Siedlung. Sie erinnert sich daran, dass sie damals ihre Häuser abends abdunkeln mussten, damit die Bomber sie nicht sehen konnten. Eines Abends saß sie bei Petroleumlicht mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern beisammen, sangen, nähten und die Kleinen spielten. Um ca. 21:30 Uhr klingelte es an der Tür. Der Luftschutzwart stand vor der Tür und schrie ihre Mutter lauthals an, weil ein kleiner Lichtstrahl nach außen drang. Die Gardine muss wohl beim Spielen etwas verrutscht sein.
Margaretes Großvater (väterlicherseits) floh aus unbekannten Gründen als Schüler von Luxemburg nach Bünde, wo er dann sein Leben lang in einer Zigarrenfabrik arbeitete und eine Familie gründete. Margaretes Vater lernte ihre Mutter in Bielefeld kennen und lieben. 1936 ging ihr Vater erstmals los um seine Familie und sich einbürgern zu lassen. Es gab bereits vier Kinder und weitere folgten. Er wollte nicht deutsch werden, weil er von Hitler überzeugt war, sondern im Gegenteil. Für ihn stand fest, dass Adolf Hitler größenwahnsinnig ist und er hatte schon zu dieser Zeit große Sorge, was passieren würde, wenn er mal seinen Größenwahn auslebt und sie keine Deutschen sind. Immer wieder ging er zum Amt und erkundigte sich über den Stand. Man sicherte ihm zu, dass der Antrag in Bearbeitung ist, er aber Geduld haben müsse. „Ja, ja, Johann, das läuft, aber sowas dauert eben.“
Sein Bruder war bereits eingebürgert, da er bei der Bundespost arbeiten wollte und dafür deutsch sein musste. Kurz vor Kriegsanfang hieß es dann aber plötzlich, dass nur noch die eingebürgert werden, die sich freiwillig zur Waffen-SS melden, die Ende 1939 als militärischer Arm der allgemeinen SS gegründet wurde.
Margaretes Vater hatte also keine andere Wahl als sich freiwillig für die Waffen-SS zu melden. Als er dieses seiner Frau vorschlug, gab es einen großen Ehekrach, der so heftig war, dass Margarete sich noch sehr gut daran erinnert: Ihr Vater versuchte ihre Mutter zu beruhigen und ihr klarzumachen, dass er es nur für sie und die Kinder macht, weil er Angst hat, dass sie sonst eines Tages in einem Internierungslager landen.
Johann Weber meldete sich also freiwillig zur Waffen-SS und wurde als „Schütze Arsch“ mit dem niedrigsten Dienstgrad nach Russland versetzt.
In einem Gespräch zwischen ihren Eltern bekam Margarete mit, wie ihr Vater sagte:
„Man möchte ja eigentlich mit der ganzen Welt Frieden und Ruhe haben, aber wenn du im Krieg bist und dir wird immer wieder gesagt, stell dir vor, diese Leute kämen zu dir und meuchelten deine Familie, kämen bis nach Deutschland und meuchelten deine Familie. Dann kannst du eben besser kämpfen.“
Was letztendlich Johann Weber in Russland erlebt und getan hat, ist Margarete nicht bekannt.
Margarete erinnert sich aber, wie er eines Tages aus Russland nach Hause kam und vor Freude tanzte, mit den Worten: „Für mich ist der Krieg zu Ende! Ich muss nicht mehr in den Krieg!“ Margaretes Vater fuhr in Russland mit einem Motorrad hinter seinem Kameraden her, der auf einem Pferd unterwegs war. Dieses Pferd trat auf eine Mine, die sofort explodierte. Pferd und Reiter waren auf der Stelle tot, aber Johann Weber überlebte die Explosion mit unzähligen Metallsplittern im Körper. Besonders schwer betroffen war sein Gesicht (glücklicherweise Brillenträger) und seine Ohren, und dieses machte er sich zunutze und spielte den Ärzten eine hochgradige Hörschwäche vor.
Als er zu Hause seinen Freudentanz aufführte, dachte er, dass diese „Taubheit“ ausreichen würde, um nicht mehr am Kriegsgeschehen mitwirken zu müssen. Aber dem war nicht so. Er wurde als heimattauglich eingestuft. Er wurde zunächst dem Sicherheitsdienst (SD) zugeteilt und musste Gefangene auf dem Weg zur Arbeit bewachen. Margarete erinnert sich sehr gut („Das ist für mich ein ganz normales Kinderbild“) an den Trecker mit dem Anhänger. Auf dem Anhänger standen die Gefangenen, auf dessen gestreifte Kleidung ein JV (Justizverbrecher) stand. Morgens wurden sie zur Arbeit gebracht und abends wieder zurück. Die Wachleute erinnerten Margarete an Förster. Sie trugen eine grüne Jacke mit einem Gewehr über die Schulter gehängt. So auch Johann Weber.
Während dieser Zeit beim SD unterhielt sich ihr Vater mal mit dem Nachbarn und Freund K. (Anm. d. Red.: Name aus Datenschutzgründen geändert) am Gartenzaun, als Margarete als 11-jähriges Mädchen dazu kam und mitbekam, wie ihr Vater zu seinem Freund sagte: „K., jetzt lass uns von etwas anderem reden. Wenn einer hört, was ich mir von dir anhöre, dann stellen sie mich an die Wand.“
Margarete fragt rhetorisch: „Hättest du als 11-jähriges Kind einen Bezug dazu gehabt?“
Als ihr Vater sie bemerkte, wurde er sehr wütend und hat mit ihr geschimpft, dass sie spielen gehen und nicht immer bei den Großen herumstehen soll. Margarete war sehr geschockt gewesen über sein Verhalten, was sie so nicht kannte und verstand es nicht. Es sprach die pure Angst aus ihm, dass sie etwas mitbekommen haben könnte.
Nach dem Krieg wurde ihr dann plötzlich alles klar, als genau dieser Nachbar und Freund ihren Vater denunzierte.
Nach nur wenigen Jahren beim SD wurde Johann Weber der Gestapo zugeteilt. Margarete erklärte, dass man weder gefragt noch überprüft wurde, ob man für die Gestapo geeignet ist. Das wurde einfach von oben so entschieden und trotz derselben Tätigkeit gehörte er jetzt der Gestapo an. Nur die Dienststelle war eine andere. Einmal bekam Margarete mit, wie ihr Vater zu ihrer Mutter meinte, dass er gar nicht genau wisse, was mit den Gefangenen im Arbeitslager gemacht wird, ob die eine „Umerziehung“ bekommen oder was genau mit denen passiert.
Die Dienststelle von Johann Weber war in Bielefeld, ca. 12 km von ihrem Zuhause entfernt. Margarete berichtet, wie sie und der Rest der Familie wahnsinnige Angst hatten, wenn ihr Vater bei der Arbeit war und die Tommys mit ihren Flugzeugen kamen und über Bielefeld „Tannenbäume an den Himmel setzten“. Mit Bauchschmerzen standen Margarete, ihre Mutter und Geschwister vor ihrem Haus und schauten in den Himmel. Die sogenannten „Tannenbäume“ waren gesetzte Ziele, wo die nachkommenden Bomber die Bomben fallen lassen sollten. Eine Bombe ist mal in einem Wald ganz in der Nähe ihres Hauses eingeschlagen. Der Krater hatte einen Durchmesser von ca. fünf Metern. Die Splitter haben den Garten von Webers erreicht. Glücklicherweise ist der Familie nichts passiert.
Johann Weber brachte eines Tages nach einem solchen Bombenangriff einen weißen Seidenspitz mit nach Hause, der fürchterlich nach Rauch gestunken hat und sein Fell war ordentlich angekokelt. Er meinte zu Margarete: „So Margarete, ich habe gehört, du möchtest Friseurin werden. Hier kannst du dich mal dran betätigen. Bade mal den Hund.“ Danach war er IHR Hund, schwärmt Margarete.
Am 15. Februar 1938 führten die Nationalsozialisten das Pflichtjahr für Mädchen und unverheiratete Frauen unter 25 Jahren ein. Diese Mädchen verpflichteten sich für ein Jahr in einem landwirtschaftlichen Betrieb oder einer kinderreichen Familie zu arbeiten. Dieses Pflichtjahr sollte die Mädchen und jungen Frauen auf das Leben als Hausfrau und Mutter vorbereiten und gleichzeitig wurde damit auch der fehlende Mann, der als Soldat an der Front kämpft, ein wenig abgefangen werden.
Das Pflichtjahr wurde in einem Arbeitsbuch dokumentiert. Sollte man dieses Pflichtjahr nicht absolviert haben, bekam man keine Lehrstelle und keinen Studienplatz.
Margarete erinnert sich, dass auch sie als kinderreiche Familie Pflichtjahrmädchen bekamen.
Ihr Vater Johann war ein gelernter Friseur, allerdings ohne abgeschlossene Gehilfenprüfung. Er besaß eine Kradmeldertasche, in der er sein Haarschneidezeug aufbewahrte. Da er nicht rauchte und ein Haarschnitt in etwa drei Zigaretten kostete, tauschte er diese in Schokolade um, die er dann während der Kriegszeit nach Hause zu seiner Familie schickte.
Eines der vielen Pflichtjahrmädchen war nur ein Jahr älter als Margaretes älteste Schwester und wurde nicht wirklich ernst genommen. Margarete und ihre Geschwister bekamen morgens nach ihrer Portion Lebertran immer ein Stück Schokolade. Sie und ihre Geschwister wussten genau, wo sich die Schokolade im Schlafzimmerschrank ihrer Mutter befand, hätten sich aber niemals getraut, dort einfach dran zu gehen. Das Pflichtjahrmädchen jedoch klaute eine ganze Tafel. Der ältesten Schwester ist damals aufgefallen, dass sie aus dem Mund nach Schokolade roch und wies ihre Mutter darauf hin. Margaretes Mutter fand das Papier der Schokoladentafel im Schrank des Hilfsmädchen. Sofort brachte sie das Pflichtjahrmädchen auf ihrem Fahrrad nach Hause zu ihren Eltern und sagte, dass es ihr sehr leid täte, aber sie bräuchte ein Vorbild für ihre Kinder und das wäre deren Tochter nicht.
Anfang 1944 kam Johann Weber, wie jeden Abend, mit dem Fahrrad vom Bahnhof nach Hause und brachte aber diesmal eine fremde Frau mit. Als Margaretes Mutter Magdalene aus dem Haus kam, sagte Johann zu ihr, dass er ihr Hilfe mitgebracht hätte und dass das die Eugenie sei und ihr ab jetzt hilft. Magdalene Weber war ziemlich fassungslos, aber Johann Weber erklärte, dass sie aus der Ukraine kommt und wenn die sie nicht aufnehmen, sie ins Arbeitslager müsse. Mit fünf Kindern hatten sie Anspruch auf eine Haushaltshilfe und da hat Johann Weber die Chance genutzt und darum gebeten, Eugenie als Haushaltshilfe mit zu sich nach Hause nehmen zu dürfen.
(Eugenie arbeitete in der Ukraine als Deutschlehrerin. Während des Krieges wurde sie als Zwangsarbeiterin aus der Ukraine nach Deutschland gebracht und musste in einem Arzthaushalt in Oerlinghausen arbeiten, wo sie sehr schlecht behandelt wurde. Zwei Mal hatte sie sich bei der Gestapo diesbezüglich beschwert. Denn die Gestapo war die Beschwerdestelle für Ausländer, aber die Gestapo hatte sie einfach in den Haushalt zurückgeschickt. Nachdem sie sich das drei Mal vergebens beschwert hatte, klaute sie aus dem Arztschrank Tabletten und versuchte sich hinter einer Bielefelder Kirche das Leben zu nehmen. Daraufhin wurde sie in ein Krankenhaus eingeliefert.)
Margaretes Vater verschwand kurz mit seiner Frau ins Haus, während Eugenie sich bei Margarete und ihren Geschwistern vorstellte und sich direkt mit ihnen anfreundete.
Als ihre Eltern wieder aus dem Haus kamen, sah Magdalene Mutter sehr verweint aus, ging mit offenen Armen auf Eugenie zu und sagte: „Ein ganz, ganz herzliches Willkommen, aber eines müssen wir uns versprechen: Wir dürfen uns niemals belügen, denn sonst funktioniert das nicht.“ Ab da an hatten Margarete und ihre Geschwister zwei Mütter und fanden es ganz toll.
Magdalene Weber und Eugenie ergänzten und verstanden sich sehr gut und hörten immer zusammen heimlich „Radio London“, wenn Johann Weber das Haus verließ, denn er hätte es nicht zugelassen und zulassen dürfen als Gestapo-Mitarbeiter.
Als der Krieg fast zu Ende war, musste Margaretes Vater noch mal in den Krieg, allerdings kam er nur noch bis zur Weser, um dort die Grenzen zu verteidigen. Dort bekam er mit, wie ein Pole einer deutschen Frau das Fahrrad gestohlen hatte um nach Hause fliehen zu können. Johann Weber nahm es ihm aber wieder ab und gab es der Frau zurück. Während der Übergabe schoss der Pole auf Johann Weber und floh. Johann Weber versteckte sich mit einem Lungendurchschuss in einem Keller. Stundenlang wartete er dort auf Hilfe bis er dann endlich nach Rinteln in ein Krankenhaus gebracht wurde.
Währenddessen schmiedeten Magdalene Weber und Eugenie einen Rettungsplan für die Haushaltshilfe: Sobald die Amerikaner nah genug sind, wollte Eugenie von den Webers ein Fahrrad „klauen“, zu den Amerikanern fliehen, dort um Schutz bitten und sich als Dolmetscherin für die Sprachen Russisch, Deutsch und Englisch in Amerika anbieten. Dieses Vorhaben wollte sie unangekündigt durchführen. Eugenie bat Magdalene ihr bei der Flucht einen gewissen Vorsprung zu lassen, indem sie sie erst gegen Mittag als vermisst meldet und nicht direkt morgens, wenn sie es bemerkt.
Die Webers sollten sich keine Sorgen machen, dass sich irgendwelche anderen Zwangsarbeiter bei denen rächen würden, weil sie jeden Einzelnen in der Umgebung kennt. Magdalene Weber war erstaunt darüber, dass sie andere Gefangene kennt, aber Eugenie verriet nicht, wie die Kontakte zustande kamen und gehalten wurden.
Margarete glaubt, dass Eugenie es tatsächlich zu den Amerikanern geschafft hat, aber ein paar Monate später fand der erste Gefangenenaustausch statt. Eugenies größte Angst war, dass man sie an die Russen ausliefern würde, denn dann würde sie höchstwahrscheinlich als Spionin angesehen werden, die für den Feind arbeitet. Da Eugenie sich nie wieder bei den Webers gemeldet hat, vermutet Margarete, dass es sich leider genauso zugetragen haben könnte.
Johann Weber lag mit dem Lungendurchschuss in einem Rintelner Krankenhaus. Margarete konnte sich nicht erinnern, wie ihre Mutter diese Information erhalten hatte, aber sie wusste irgendwann, dass er verletzt im Krankenhaus liegt. Margaretes älteste Schwester war 14 und die jüngste der fünf Kinder war sechs Jahre alt. Da zu der Zeit absolutes Ausgehverbot herrschte, war es extrem gefährlich das Haus bzw. den erlaubten Bereich zu verlassen. Nichtsdestotrotz hat sich Magdalene Weber das Fahrrad genommen und ist von Steinhagen bis nach Rinteln gefahren, querfeldein, um ihrem Mann im Krankenhaus zu besuchen und Wäsche zu bringen. Die Kinder wussten damals nichts davon, nur, dass die Mutter wegfuhr und sie es niemandem sagen durften.
Johann war ein sehr geselliger Mensch und hatte direkt Kontakte im Krankenhaus geknüpft. Ein Bauer aus Rinteln hatte Johann geraten noch nicht nach Hause (Steinhagen) zu fahren, sondern mit zu seinem Hof zu kommen bis sich die ganze Situation da draußen ein wenig beruhigt hat, da Deutschland ja besetzt worden war. Johann verstand das Angebot nicht und war sich auch keiner Schuld bewusst, weil er niemandem etwas getan hatte. Johann fuhr also nach Hause zu seiner Familie.
Einen Tag nach seiner Entlassung lag Johann, der sehr viel Blut verloren hatte, und noch sehr geschwächt war, in der Sonne in einem Liegestuhl bei sich zu Hause. Plötzlich kam ein Jeep vorgefahren, Soldaten stiegen aus, verhafteten Johann und führten ihn ab. Margarete glaubt sich zu erinnern, dass ihr Gebiet nach dem Krieg englische Zone wurde und es englische Soldaten waren, die ihren Vater einfach mitnahmen. Er durfte keinen Mantel und auch sonst nichts mitnehmen. Ihre Mutter ist am darauffolgenden Tag zur Kommandantur gefahren, hat sich dort mit dem zuständigen Kommandanten unterhalten, der glücklicherweise relativ gut Deutsch sprach, und hat ihm klar gemacht, wie krank ihr Mann ist und darum gebeten, ihm wenigsten ein paar Sachen bringen zu dürfen. Sie wollte dann auch gerne wissen, wie es dazu kommen konnte, dass ihr Mann, der gerade erst wieder nach Hause gekommen ist, direkt verhaftet wurde. Eigentlich hätte er auch noch länger im Krankenhaus bleiben sollen, aber er wollte unbedingt nach Hause und hat sich selbst entlassen.
Magdalene wurde gesagt, dass er verhaftet wurde, weil er für die Gestapo gearbeitet hat. Sie versuchte dem englischen Kommandanten zu erklären, wieso er bei der Gestapo gelandet ist und dass er keine Wahl hatte. […] Und sie fragte ihn, ob das denn stimme, dass wenn man einen „Nazi“ anschwärzt, eine Stange Zigaretten und amerikanisches Weißbrot bekäme. Der Kommandant meinte, dass er darüber nichts wisse, aber dass auch die Engländer wohl leckeres Weißbrot hätte. Nachdem sich der Kommandant das alles angehört hatte, nahm er sich die Mappe von Johann und blätterte darin etwas ungewöhnlich herum, strich dann die linke und die rechte Seite der geöffneten Mappe von der Mitte aus ein paar Mal glatt und meinte dann, dass er sie einmal kurz verlassen und draußen etwas klären müsse. Magdalene nutzte die Gelegenheit und schaute nach, was auf der aufgeschlagenen Seite über Johann stand und fand heraus, dass der Nachbar K. ihn angeschwärzt hat. K. sei immer ein Kommunist gewesen und Johann hätte eigentlich ihn damals anzeigen müssen.
Margarete erinnert sich, dass der Sohn ihrer Nachbarin, mit dem sie zur Schule ging, noch kurz vor Kriegsende eingezogen wurde, mit 14 Jahren.
Als schon klar war, dass Deutschland den Krieg verlieren wird, rief Heinrich Himmler (Reichsführer SS und der zweitmächtigste Mann nach Adolf Hitler selbst) die NS-Organisation „Werwölfe“ ins Leben. Bei den sogenannten „Werwölfen“ handelte es sich um kleinere Spezialeinheiten, die im Untergrund für Angst und Schrecken sorgen sollten.
Reichsführer SS Himmler: „…in Gebieten, von denen der Feind annimmt, dass er sie bereits erobert hat, muss erneut hinter seinem Rücken deutscher Widerstandswille aufflammen und todesmutige Freiwillige werden als Werwölfe dem Feind schaden und seine Lebensfäden durchschneiden“.
Männer mit Verletzungen und Behinderungen brauchten normalerweise nicht mehr in den Krieg, aber 1945 wurde jeder Mann benötigt. So musste auch ein Nachbar von Margarete, der ein steifes Bein hatte, sich zur Verfügung stellen.
Die Männer für die Untergrundbewegung „Werwölfe“ bekamen eine „Blitzunterweisung“, u. a. wie man mit einer Waffe umgeht. Sie versteckten sich dann im Wald, um dort in einem selbstgebauten Lager auf den Feind zu warten und sie aus dem Hinterhalt zu töten.
In den letzten Tagen des Krieges ergaben sich die „cleveren“ Bürgermeister. Sie hingen weiße Fahne auf. “Den Steinhagener Bürgermeister, den wollte man aufhängen, weil die Bekloppten, die alten Nazis, die immer noch nichts kapiert hatten, haben eine Panzersperre gebaut unterhalb unseres Dorfes und wir wohnten 2 km oberhalb des Dorfes und da haben die da unten die Panzersperre aufgebaut…dann hat aber wohl irgendwie irgendeiner sich durchgesetzt gegen die Panzersperren-Bauten, denn sonst hätte es bei uns noch eine Schlacht oder sowas gegeben und der Bürgermeister war vernünftig und ist mit der weißen Fahne am Stock den Amis entgegengegangen, auf die Panzer zu und die haben dann Stopp gemacht und haben dann das Dorf still übernommen, haben es nicht erkämpfen müssen, sondern waren dann einfach da.“
Margarete erinnert sich noch gut daran, wie die „Werwölfe“ wieder nach Hause kamen, weil das „Spiel im Wald“ zu Ende war, weil nicht mehr gekämpft werden musste. Sie muss ein bisschen schmunzeln bei dem Gedanken daran, dass u. a. ein Mann mit einem steifen Bein und ein 14-jähriger Junge die Panzer im Wald aufhalten sollten.
Auf einem Klassentreffen nach mehreren Jahrzehnten berichtete dieser damals 14-jährige Nachbar, dass das für ihn „ein ganz spannendes Abenteuer“ war. Dieses deckt sich auch mit den Berichten anderer junger Soldaten, die nicht im Geringsten ahnen konnten, in welche Gefahr sie sich begaben. Auch Margarete sagt von sich, dass sie die Kriegszeit mit einer gewissen „Spannung“ durchlebt hat und dass die Menschen entsprechend vom Staat so „geimpft“ wurden.
Wenn heute die Sirenen gehen, in erster Linie wegen eines Probealarms, dann spürt Margarete, wie sich ihr Körper anspannt und eine gewisse Angst in ihr aufsteigt, auch heute noch, 77 Jahre nach Kriegsende in Deutschland. Doch schnell kommt dann aber auch die Erinnerung, dass es sich eher um das Signal für „Entwarnung“ handelt, dieser gleichbleibende Dauerton. Denn wenn damals vor einem Luftangriff gewarnt wurde, gab es einen auf- und abschwellenden Heulton. Das bedeutete, dass man sich schnellstmöglich einen Luftschutzbunker aufsuchen musste, um sich vor einem Bombenangriff zu schützen.
Vielen Dank an Margarete Weber für das Teilhaben an ihren Erinnerungen.
Weiterführende Infos:
- Der Heimatverein Wadersloh befasst sich intensiv mit der Erinnerungskultur in Wadersloh (ext. Link). Als weitere lesenswerte Lektüre empfehlen wir das Buch „Die vergessenen Nachbarn, wer kennt sie noch? – Die Geschichte der jüdischen Familien in Wadersloh seit 1816“ von Hans-Josef Kellner. Das Werk setzt sich mit der Geschichte der Wadersloher*innen jüdischen Glaubens und ihrem Schicksal auseinander.
- Für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in Deutschland empfehlen wir den Youtube-Kanal von Mr. Wissen2go des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Auf diesem Kanal gibt es Erklärvideos zu politischen Themen in der Vergangenheit und Gegenwart. (ext. Link)
Das Zeitzeugen-Interview wurde von S.-J. Kammermann zusammengetragen.
Fotos (Archiv): B. Brüggenthies